50 Shades of Grey
Chiatura (oder auch Tschiatura) liegt etwa 180 Kilometer nordwestlich von Tiflis und ist eine Stadt mit etwa 12.800 Einwohnern, die ich passenderweise nur mit bedecktem Himmel und mit Regen gesehen habe und die zu den Orten gehört, die wohl auch bei Sonnenschein keine Schönheit werden.
Steile Berghänge prägen das Stadtbild. Einst konnten die Bewohner ihre inzwischen nur noch grauen Wohnblöcke bequem mit 26 Personenseilbahnen erreichen. Die sind jedoch alle stillgelegt, die Seilbahnstationen verfallen ebenso wie Stadt insgesamt.
Hoffnung mag die Eröffnung einer neuen zentralen Seilbahnstation mit vier Linien im September 2021 gemacht haben. Angeblich ist die Renovierung und der Neubau weiterer Strecken in Planung.
Flüsse ziehen sich mit Bäumen und Büschen an den Ufern ja normalerweise immer wie ein grünes Band durch Städte. Nicht so in Chiatura. Hier ist die Kvirila in ein Betonkorsett gezwängt und ist nicht mehr als dreckige Brühe, die vorbeizieht.
Abends sind die meisten Straßenlaternen in Chiatura aus, es herrscht eine gespenstische Stimmung. Die Menschen sind dann mit Taschenlampen unterwegs – das Ganze erinnert sehr an Nordkorea.
1992 ist die komplett marode Gas-, Strom- und Wasserversorgung zusammengebrochen. Angeblich ist sie erst 2004 wieder hergestellt worden. In der Zwischenzeit mussten Holzkohleöfen genutzt und das Wasser aus Brunnen und Quellen in Kanistern beschafft werden. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich die Einwohnerzahl der Stadt durch diese infrastrukturellen Probleme und dem Bedeutungsverlust der lokalen Bergbauindustrie halbiert.
Eine hohe Arbeitslosigkeit und Umweltprobleme, wie Luft- und Wasserverschmutzung kommen als Probleme hinzu. Um es zusammenzufassen: Chiatura ist unfassbar trostlos.
Wofür ist Chiatura eigentlich bekannt geworden?
Chiatura ist Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Manganbergbau groß geworden. Zeitweise kamen 50 Prozent des weltweit geförderten Manganerzes aus Chiatura. Bis zum Ersten Weltkrieg waren die Gruppen in deutscher Hand und das Metall wurde für die Legierung von Stahl verwendet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Chiatura eine neue Blütezeit. Im Auftrag Stalins – der hier 1905 die Bergarbeiter für die bolschewistische Revolution gewinnen konnte – wurde ein Netz aus Seilbahnen gebaut. Nicht nur, um das Manganerz aus den vielen Schächten an den Berghängen abzutransportieren, sondern auch als alltägliches Transportmittel für die Bewohner. Wo es anderswo Straßenbahnen gibt, gab es in Chiatura aufgrund der Lage an den steilen Hängen eben Seilbahnen.
Noch bis vor wenigen Jahren waren die verrosteten Gondeln der Seilbahnen im Einsatz. Dieser Weltspiegel-Beitrag aus dem Jahr 2018 vermittelt einen guten Eindruck, in welch schlechtem Zustand die Seilbahnen zuletzt waren. Kein Wunder, dass sie inzwischen allesamt stillgelegt sind.
Aber immerhin waren sie eine Attraktion für abenteuerlustige Touristen und auch ich habe mich ja auf den Weg gemacht, um zu schauen, was noch von ihnen übrig geblieben ist.
Stalins Seilbahnen – was von ihnen übrig ist
Was man an vielen Stellen in Chiatura findet, sind die verlassenen und teils schon überwucherten Seilbahnstationen. Die Stahlseile sind fast immer schon demontiert, ebenso die Gondeln. Nur an der Talstation unweit des Kulturzentrums hängt noch eine verrostete Kabine in luftiger Höhe.
Die Abfahrtsplattform kann man über rostige und wenig vertrauenserweckende Treppen mit wackligen Geländern und Betonplatten auch noch erreichen. Für ein schnelles Foto habe ich mich da hinaufgewagt. Es ist fast unglaublich, dass diese Seilbahnen zum Teil noch bis 2019 betrieben wurden.
Aber wenn man selbst mal von einer Bergstation zur nächsten gelaufen ist, weiß man, warum das so war. Für die Bewohner waren diese unsicheren Transportmittel immer noch besser als die schweißtreibenden Wege vom Tal hoch zu den Wohnblöcken.
Eine der alten Gondeln ist noch zu besichtigen Als wäre die Zeit irgendwann einfach angehalten worden
Die nagelneue zentrale Seilbahnstation ist wie eine oberirdische U-Bahn-Umsteigestation: Von hier aus gehen nun Stecken in vier verschiedene Richtungen ab. Für mitteleuropäische Verhältnisse sind die Fahrten sehr günstig (50 Petri, ca. 0,18 Euro pro Strecke).
Auf elektronische Zugangskontrollen wurde hier wahrscheinlich absichtlich verzichtet. So kann man weiterhin Mitarbeiterinnen beschäftigen, die die Papiertickets verkaufen und andere, die an jeder Abfahrtsebene und an den Bergstationen den Zugang zu den Gondeln kontrollieren – Beschäftigungsmaßnahmen statt Arbeitslosigkeit.
Ich kann es sehr empfehlen, einfach ein paar Tickets zu kaufen und mit den Seilbahnen hin und her zu fahren. Unterwegs bekommt man einen guten Blick auf die marode Bausubstanz Chiaturas geboten und lernt nebenbei auch ein paar Wohnviertel an den Hängen kennen. Außerdem entdeckt man immer weitere aufgegebene Seilbahnstationen.
Was gibt es in Chiatura sonst noch zu sehen?
Ein paar der Wohnblöcke in Chiatura wurden in den letzten Jahren neu gestrichen. Aber irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass auch das nur Beschäftigungsmaßnahmen waren und die Gebäude eigentlich nicht mehr zu retten sind.
Bröckelnder Putz ist an den Häusern nur da geringste Problem. Bei einigen Gebäuden sieht man von oben, wie die Schornsteine schon verrottet sind und heizen lohnt sich wegen der windschiefen Fenster wohl auch kaum. Wie die Winter hier sind, möchte man sich kaum ausmalen.
Es gibt eh nichts zu sehen: Geldautomat statt Fenster Bröckelnde Schornsteine an den Häusern Hygge geht anders
National Geographic berichtete auch von durch den Bergbau in Mitleidenschaft gezogene Fundamente von Häusern. Fehlende Steuereinnahmen und eine damit verbundene Mängelverwaltung, das dürften die größten Sorgen im Rathaus von Chiatura sein.
Als dann mal ein bisschen Geld da war, hat man offensichtlich das repräsentative Gebäude gegenüber des Rathauses streichen lassen – allerdings nur an der Seite, die direkt vom Rathaus zu sehen ist. Prioritäten – so wichtig.
Die Fassade Richtung Rathaus wurde neu gestrichen Das Kulturzentrum: das schönste Gebäude Chiaturas mit einem einsamen Besucher
Was in Chiatura angesichts der wirtschaftlichen Lage nicht überraschend ist: Es gibt vergleichsweise wenige Restaurants. Statt dessen gibt es viele kleine Obst- und Gemüsestände, mit denen die Menschen versuchen, ein wenig Geld zu verdienen. Klar, gibt es auch ganz normale Geschäfte, aber hängen bleibt der traurige Anblick der Ladenzeile in einem alten Sowjetgebäude mit den vielen leerstehenden Geschäften.
Pluspunkte sammeln Städte bei mir ja immer mit Riesenrädern. Und da kann Chiatura mithalten. Nahe des ehemaligen Pionierpalastes, der nur noch eine Ruine ist, wird rund um das (kleine) Riesenrad gerade gebaut. Offenbar soll hier unweit einer der neuen Bergstationen ein neuer Freizeitpark entstehen.
Vom Pionierpalast oberhalb der Stadt… … ist außer den Außenmauern… … nicht viel übrig
Wie kommt man nach Chiatura?
Chiatura ist zwar dank des Bergwerkes an das (elektrifizierte) Eisenbahnnetz angebunden, aber Personenzüge fahren vom Bahnhof auch schon lange nicht mehr ab.
Stattdessen muss man sich mit Marshrutkas auf den Weg nach Chiatura machen. Stündlich fahren die Kleinbusse von und nach Kutaisi (ca. zwei Stunden; 10 Lari, ca. 3,70 Euro) und mindestens stündlich nach Tiflis (ca. 3 Stunden; 15 Lari, ca. 5,50 Euro)
Die Busstation von Chiatura liegt etwas oberhalb der Innenstadt an der Ninoshvili Street. Fahrkarten kann man an den Schaltern im Gebäude kaufen.
In Kutaisi fahren die Marshrutkas auf der Rückseite des zentralen Busbahnhofs ab. In Tiflis starten die Marshrutkas Richtung Chiatura an der Didube Busstation (Metro „Didube“).
Übernachtung in Chiatura
Chiatura hat tatsächlich ein paar Hotels.
Ich habe im Hotel Newland (*) übernachtet, das auch Zimmer hat, deren Fenster direkt zur Restaurant-Terrasse hinausgehen – ungewöhnlich, aber so kann man sich vom Bett aus an den Gesprächen der Gäste beteiligen, wenn man möchte.
Booking.com