Sensationelle Architektur der Nachkriegszeit
Die Cité Radieuse ist ein von Le Corbusier entworfenes Wohnhochhaus, das von 1947 bis 1952 gebaut wurde. Für Architekturfans ist sie möglicherweise die Sehenswürdigkeit in Marseille.
Häufig wird das Gebäude auch als Unité d’Habitation, als „Wohneinheit“ oder gar „Wohnmaschine„, bezeichnet, weil es eben als Ideallösung für ein neues Bauen angesichts des Wohnungsmangels nach dem Zweiten Weltkrieg geplant wurde. Le Corbusier wollte alle Einrichtungen des täglichen Lebens in einem Gebäude unterbringen und verstand es so auch als „vertikale Stadt“.
Neben dem 56 Meter hohen, 137,2 Meter langen und 24,4 Meter breiten Hochhaus in Marseille wurden übrigens noch ähnliche Unités d’Habitation in drei kleineren französischen Städten sowie in Berlin (Das Corbusierhaus im Westend) gebaut – und 2016 zum Weltkulturerbe der UNESCO ernannt.
Was macht den Reiz der Cité Radieuse aus? Was gibt es dort zu sehen? Darum soll es in diesem Beitrag gehen.
Wer war nochmal Le Corbusier?
Le Corbusier (eigentlich: Charles-Édouard Jeanneret-Gris) war ein schweizerisch-französischer Architekt, der als einer der bedeutendsten Vertreter seines Faches des 20. Jahrhunderts gilt.
Auf ihn geht auch der Begriff des Brutalismus zurück, da er den verwendeten Sichtbeton an der Unité d’Habitation in Marseille als „béton brut“ (zu deutsch: „rohen Beton“) bezeichnete.
Seine berühmten „Fünf Punkte der Architektur“ formulierte er schon 1927 und setzte sie dann in den Unités d’Habitation konsequent um: Betonstützen statt tragender Mauern, Dachgärten auf einem Flachdach (davon sieht man in Marseille allerdings aktuell nichts mehr), eine freie Grundrissgestaltung, Langfenster und eine freie Fassadengestaltung.
Was gibt es in der Cité Radieuse zu sehen?
Die inzwischen über 70 Jahre alte Cité Radieuse wird noch immer bewohnt und fasziniert nach wie vor durch ihre brutalistische Fassade und das durchdachte Wohnkonzept im Inneren.
Der öffentliche Bereich
Der Eingangsbereich
Wenn man sich von außen an sehr, sehr viel – in die Jahre gekommenen – Sichtbeton sattgesehen hat, ist man bereit für die elegante Eingangshalle mit ein paar Sitzbänken und dem warmen Licht.
Hier registriert man sich als Besucher am Empfang und kann dann mit Fahrstühlen nach oben in die öffentlich zugänglichen Bereiche des Gebäudes fahren.
Das Hotel und Café
Architekturliebhaber werden ihre Freude im hauseigenen Hotel Le Corbusier haben (Einzelzimmer ab 112 Euro). Wer nur kurz eine Pause in der Cité Radieuse machen möchte, ist im Café mit seinen erstaunlich moderaten Preisen gut aufgehoben.
Geschäfte und Büros
Die dritte und vierte Etage des Gebäudes (3e und 4e rue) sind mit einer Freitreppe verbunden. Hier befinden sich nicht nur das Hotel und das Café, sondern auch einige Büros (nicht zufällig hauptsächlich von Architekten), ein Feinkostgeschäft und eine Buchhandlung.
Früher wurden auf dieser „Geschäftsstraße“ noch viel mehr angeboten: eine Metzgerei, ein Frisör und ein kleiner Supermarkt. Dessen Selbstbedienungskonzept war Anfang der 1950er Jahre noch völlig neu.
Das Dach
Das Dachte sollte laut Le Corbusier dem Wohlbefinden von Körper und Geist dienen. Dementsprechend waren hier eine Laufbahn, eine Turnhalle, ein Solarium, ein Theater und ein kleines Schwimmbecken zu finden.
Einige Teile des Daches, wie zum Beispiel das Schwimmbecken, sind verständlicherweise exklusiv den Bewohnern der „Wohnmaschiene“ vorbehalten. Für alle anderen dominiert hier der rohe Beton.
So ganz ohne Pflanzen wirkt das Ganze doch sehr lebensfeindlich und wenig einladend.
Der Blick in alle Himmelsrichtungen ist dafür spektakulär.
Der private Bereich
Die Gänge
In den Gängen zu den Wohnungen möchten die Bewohnerinnen und Bewohner verständlicherweise nicht ständig Touristen herumlaufen haben, daher gehören sie nicht zum öffentlichen Bereich.
Ich habe mich dummerweise irgendwie mit dem Fahrstuhl verfahren und bin dann im Treppenhaus auch falsch abgebogen, habe dann aber schnell ein paar Fotos gemacht, damit Ihr das nicht müsst.
Die innenliegenden Gänge wirken ohne Tageslicht etwas dunkel, haben durch die angeleuchteten Türen aber einen gewissen Charme. Angeblich ist die Dunkelheit Teil des Konzepts, um die Gänge so mit den lichtdurchfluteten Wohnungen zu kontrastieren. Bei den Farben der Türen hat Le Corbusier übrigens die der Balkonwände aufgegriffen, die dem brutalistischen Äußeren zumindest etwas die Härte nehmen.
Die Nachbarschaftsräume
Die Nachbarschaftsräume sind vom Treppenhaus aus erreichbar. Dazu gehört neben einer Bibliothek auch eine Vorschule – ganz praktisch für die Bewohner und passend zum Konzept der vertikalen Stadt.
Die Wohnungen
Im Rahmen von Führungen (s.u.) lassen sich auch Wohnungen besichtigen.
Das besondere an den insgesamt 337 Wohnungen in der Cité Radieuse ist, dass es sich meist um Maisonette-Wohnungen handelt, die über zwei Stockwerke gehen. Sie erstrecken sich auf voller Breite von einer Seite des Gebäudes auf die andere.
Der Zugang zu den Wohnungen erfolgt von einem der Gänge, „Rue“ genannt, die nur alle drei Stockwerke benötigt werden (und somit elegant mehr Wohnfläche für die Wohnungen bleibt), da immer zwei Wohnungen wie zwei liegende „L“ übereinander gestapelt sind. Von jeder „Rue“ führen die Türen auf der einen Seite zu den Wohnungen, in denen man „montant“ (zu deutsch: „aufsteigend“) wohnt und auf der anderen Seite zu Wohnungen, die „descendant“ (also „absteigend“) angelegt sind.
Bei den einen ist der Wohnbereich unten und die Schlafzimmer liegt oben und bei den anderen ist es umgekehrt. Allen Wohnungen gemein sind die Balkone zu beiden Seiten.
Wenn man kein Ticket für eine Führung ergattern konnte, aber unbedingt mal eine Wohnung anschauen möchte, empfehle ich eine Reise nach Paris.
Exkurs: La Cité Radieuse im Museum Cité de l’architecture et du patrimoine in Paris
Eine großartige Möglichkeit, eine Musterwohnung der Cité Radieuse mal in aller Ruhe zu besichtigen, besteht im Architekturmuseum in Paris. Dort werden im zweiten Obergeschoss zahlreiche Modelle moderner Architektur präsentiert.
Und eben eine Wohnung, wie sie Le Corbusier geplant hat – im Maßstab 1:1. Schülerinnen und Schüler von 17 technischen Gymnasien aus der Region um Paris haben diese Wohnung und die darin enthaltenen Möbel mit Hilfe und Anleitung von Fachleuten im Jahr 2002 gebaut.
Das Ergebnis ist absolut beeindruckend. Der Ausblick von den Balkonen zu beiden Seiten fort nun zwar statt auf Marseille auf die Ausstellungsflächen des Museums bzw. eine Fototapete, aber man kann in der Wohnung herumlaufen und die kleinen gut durchdachten Details bewundern.
Nachgebaut wurde hier die Variante mit dem Eingang und Wohnbereich im unteren Geschoss, während die Schlafzimmer und das Badezimmer über eine hübsche Treppe zu erreichen sind. Die Küche war – gerade mit den Le Corbusier-Farben nicht so mein Fall, aber die Möbel sind zeitlose Klassiker und die Einbauschränke praktisch, weil der Platz optimal als Wohnfläche gedacht war.
Am Lichtkonzept könnte man vielleicht noch ein bisschen arbeiten, aber ansonsten ist die Wohnung ein Traum. Ich würde sofort einziehen.
Quick Facts
La Cité Radieuse in Marseille
Wie kommt man Metro oder Bus zur Unité d’Habitation?
Aus der Innenstadt von Marseille fährt man am besten mit der Metrolinie 2 (Richtung Sainte-Marguerite Dromel) bis zur Haltestelle „Rond Point Du Prado“ am Stadion Orange Vélodrome. Von dort geht es entweder weiter mit den Buslinien 21, 21S, 22, 22S oder B1 bis zur Haltestelle „Le Corbusier“ oder zu Fuß in etwa 15 Minuten.
Kostet die Cité Radieuse Eintritt?
Ein Besuch der Cité Radieuse kostet keinen Eintritt. Man muss sich nur beim Pförtner in den Eingangshalle in ein Gästebuch eintragen.
Gibt es auch geführte Touren durch die Cité Radieuse?
Führungen durch die Cité Radieuse kann man für 15 Euro pro Person (Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren: sieben Euro) hier buchen. So bekommt man nicht nur die öffentlich zugänglichen Bereiche, sondern auch eine der Wohnungen zu sehen.
Die täglichen Führungen (außer an Sonn- und Feiertagen) um 14 und 16 Uhr sind auf französisch.
Englischsprachige Touren werden laut Website während der französischen Schulferien an Samstagvormittagen angeboten. Allerdings kann ich die auf der Website aktuell nicht finden.
Tickets sollte man sich auf jeden Fall frühzeitig sichern – auch die täglichen Rundgänge auf französisch sind manchmal schon lange im Voraus ausgebucht.
Weitere Informationen
Eine wahre Fundgrube an Informationen über die Unité d’Habitation gibt es auf der Website der Association des Habitants, der Vereinigung der Bewohnerinnen und Bewohner; allerdings nur auf französisch.
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